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Mikrosoziologie
Es gibt im wesentlichen zwei Arten des Verständnisses von Mikrosoziologie. Man kann sie zunächst verstehen als soziologische Erforschung bestimmter Gegenstände. Während die Makrosoziologie strukturelle Aspekte der Gesamtgesellschaft (soziale Ungleichheiten, demographische Entwicklungen, Generationenlagerungen etc.) untersucht, befasst sich die Mikrosoziologie mit den „kleinen“ sozialen Einheiten, wie Familien- und Paarbeziehungen, sozialen Kleingruppen allgemein oder dem Individuum. Typisch mikrosoziologische Themen sind nach diesem Verständnis etwa Sozialisation, personale Identität, Jugend und Adoleszenz.
Die zweite Art, Mikrosoziologie zu verstehen, ist eine methodologische. Es geht hier weniger um soziale Gegenstandsbereiche als vielmehr um eine bestimmte Perspektive in der Erforschung der sozialen Welt. Die leitende Idee ist, dass soziale Strukturen (auch die gesamtgesellschaftlichen) ihr Fundament immer in konkreten Handlungen konkreter Personen haben müssen und dass man in der soziologischen Forschung diese Ebene der Konkretion sozialen Handelns berücksichtigen muss. Eine entsprechende Betrachtung der sozialen Welt „wie durch eine Lupe“ wird als ein wesentlicher Aspekt empirischer soziologischer Forschung angesehen.
Diese letztere Perspektive teilen sich wiederum zwei sehr unterschiedliche Ansätze. Der erste Ansatz schließt an die Tradition des Methodologischen Individualismus an und wird gegenwärtig vor allem verkörpert durch die verschiedenen Spielarten der Theorie rationaler Wahl. Leitend ist hier die Frage, wie sich kollektive Phänomene auf die Handlungen von Einzelnen zurückführen lassen. Ein entscheidendes Erklärungselement ist dabei die Idee der Nutzenmaximierung, die wie eine anthropologische Konstante verstanden wird. Der „Blick durch die Lupe“ beschränkt sich in diesem Ansatz im wesentlichen auf die Ebene der Modellbildung. Es werden in aller Regel nicht konkrete Handlungen analysiert, sondern Modelle entwickelt, wie man sich im Prinzip individuelle Handlungsmuster in bestimmten Problemzusammenhängen vorstellen sollte. Daraufhin werden Hypothesen entwickelt, operationalisiert und mit dem Instrumentarium standardisierender Methoden überprüft.
Der zweite Ansatz lässt sich in einem weiten Verständnis als „interaktionistisch“ kennzeichnen. Hier sind die zentralen Untersuchungseinheiten nicht die Einzelnen (die Kalküle, die sie anstellen, die Restriktionen, denen ihre Wahlhandlungen unterliegen), sondern die konkreten Interaktionen, in denen sich Sozialbeziehungen unterschiedlichen Typs realisieren. Die Bandbreite reicht von flüchtigen Begegnungen im öffentlichen Raum über Freundschafts- und Familienbeziehungen, Kooperationsbeziehungen in Organisationen bis hin zu politischen Vergemeinschaftungen. Dieser Ansatz ist eng mit einem qualitativen methodischen Vorgehen verbunden. Es werden Daten je konkreter Interaktionen beziehungsweise Praktiken untersucht.
„Interaktion“ ist dabei weit gefasst. Gemeint sind nicht nur „face-to-face“-Interaktionen zwischen mehreren Individuen in Familien, am Arbeitsplatz, in Organisationen, in Parlamenten etc., sondern auch Selbstvergewisserungen in biographischen Interviews, medial vermittelte Kommunikationen (Tageszeitungen, Bücher, Internet) oder Äußerungen kollektiver Akteure wie Gesetzestexte oder Berufsordnungen.
Die Aufgabe einer so verstanden Mikrosoziologie besteht darin, das begriffliche und methodische Instrumentarium für die Analyse von Prozessen der Strukturbildung in Interaktionen bereitzustellen und weiter zu entwickeln. Dabei gilt es insbesondere, am Datenmaterial fallspezifische, den jeweiligen Akteuren zuzurechnende Strukturelemente von solchen Aspekten zu unterscheiden, die der jeweiligen Interaktion oder Praxis vorgängig sind, sie aber gleichwohl mit prägen. Was kennzeichnet die jeweilige Sozialbeziehung als Besondere? Auf welche allgemeinen Bedeutungsstrukturen, Handlungsrahmungen, gesellschaftliche Institutionen, Rollenmuster etc. beziehen sie sich in ihren Interaktionen?